Date

10.03.2016
Imagine This – Mein Brief an John Lennon.
Nimm Religionen weg, John, und wir werden etwas anderes finden

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Veröffentlicht auf Elephantjournal, 10. März 2016 : https://www.elephantjournal.com/2016/03/imagine-this-my-letter-to-john-lennon/

Lieber John,

wie geht’s Dir, alter Freund? Ich denke in diesen Tagen immer öfter an dich - meistens, wenn ich die Nachrichten sehe. Es wird immer schwieriger, sich die schöne Welt vorzustellen, die Du in Deinem Lied erschaffen hast, damals, vor vielen Jahren.

Die Welt leidet. Die Hölle ist nicht irgendwo tief unter uns. Wir brauchen uns nichts mehr vorzustellen, denn sie ist offenbar direkt in unserer Mitte.

Gestern habe ich mir "Imagine" zum ersten Mal seit Jahren wieder aufmerksam angehört. Dieses Lied hat mich seit meinen Teenage-Jahren begleitet. Ich war noch so jung, als es zum ersten Mal herauskam. Bis heute erinnere ich mich an den Sternenhimmel, in den ich die halbe Nacht starrte, während ich es immer und immer wieder abspielte. Ich fühlte mich zutiefst verstanden in dem Raum, den dieser Song schuf, und ermutigt, einfach so zu sein, wie ich war, gebrochenen Herzens, traurig und doch mit Ausblick auf eine bessere Welt.

Aber das Leben ging weiter, und ich auch. Gestern, als ich "Imagine" hörte, spürte ich eine subtile Distanz, die mir das Eintauchen in die Musik verwehrte - stattdessen fand ich mich als melancholische Beobachterin wieder. Zum ersten Mal war es mir nicht möglich, mich auf den Rhythmus deiner unschuldigen Vision einzulassen.

Keine Länder, keine Grenzen, kein Himmel, keine Hölle, nur Frieden... Ich fürchte, das funktioniert so nicht mehr für mich.

Wütende Fanatiker terrorisieren die Welt mit den barbarischsten Verbrechen im Namen ihres Gottes; Fluten von verzweifelten Flüchtlingen veranlassen einst gastfreundliche Länder, ihre Grenzen zu verschärfen. Ganze Nationen verhärten ihre Herzen angesichts solch überwältigender Not.

Ich kenne Deine Antwort auf diese Frage. Wie habe ich früher mitgesungen, John - ehrlich, aus voller Kehle! Aber gestern bin ich verstummt.

Ich lebe seit mehr als 30 Jahren in einer multireligiösen Beziehung. Mein Mann ist Buddhist, ich bin Christin, und unsere spirituelle Praxis ist für uns beide wichtig. Ich bin mit den Herausforderungen vertraut, die unterschiedliche religiöse Ansichten mit sich bringen können. Ein wertendes Umgang damit verletzt leicht und tief. Hier geht es um heiligen Boden, der mit äußerster Sorgfalt behandelt werden muss. Es ist ein delikater Tanz zwischen feinsinnigem Abtasten und dem vorsichtigen Versuch, ein Gefühl für die inneren Realitäten des anderen zu bekommen.

Ja, es ist oft nicht leicht und kann manchmal einsam und traurig werden, vor allem, wenn wir uns bei philosophischen Debatten in die Haare kriegen. Dann verlieren wir den Blick dafür, wie viel wir eigentlich gemeinsam haben.

Und trotzdem liebe und respektiere ich diesen Mann, nach all den vielen Jahren und Herausforderungen.

Er stimmt ja mit Deiner fiktiven Lösung überein, wenn es um Religion geht. Des Öfteren hat er Dich zitiert, als wir in die Falle des religiösen Wettbewerbs tappten. Scheint ja auch so logisch zu sein: kein Himmel, keine Hölle, keine Religion. Das Leben wäre doch so einfach, oder?

Ich fürchte, ich kann mich Euch hier nicht anschließen. Würde die Abschaffung dieser Konzepte uns wirklich in friedliche Wesen verwandeln?

Religionen bieten Orientierung, Werte und Antworten auf unsere tiefsten Fragen. Deshalb fühlen wir uns hier so verletzlich, so unsicher und leicht bedroht durch andere Glaubensbekenntnisse. Wir erwarten, dass eine Wahrheit etwas Absolutes ist, etwas, das für alle gilt.

"Da ich Recht habe, musst du Unrecht haben." Diese verhängnisvolle Schlussfolgerung unsicherer Gemüter ist der Nährboden für Konflikte und Blutvergießen. Es ist die Sprache des Fundamentalismus, die Sprache der Angst.

Ich sehe Religion, oder vielmehr deren Missbrauch, nicht als eigentliche Ursache des Problems. Der Übeltäter ist eine menschliche Eigenschaft, die in unserer DNA verwurzelt zu sein scheint: das Wettbewerbs-Gen, der Wunsch, Recht zu haben, das Bedürfnis nach Sicherheit und Kontrolle.

Es ist ein zutiefst menschliches Problem - man kann es nicht einer bestimmten Gruppe anlasten.

Ich habe beängstigende religiöse Fanatiker erlebt, und ich habe auch die aggressive Kraft der Antireligiösen erfahren, die vor ihrem eigenen Extremismus leicht die Augen verschließen. Religion, Rasse, Kultur, Politik, Sport, Wirtschaft - sie alle bieten ideale Schlachtfelder für unsere existenziellen Kämpfe. Jeder Lebensbereich kann betroffen sein, je näher am Kern unseres Lebens, desto stärker. Überlegenes Verhalten tut immer weh und führt zwangsläufig zu Spaltung und Gewalt.

Es braucht Weisheit, Reife und Demut, um die Koexistenz verschiedener Wahrheiten zu akzeptieren.

Lieber John, vor vielen Jahren hat mich deine kraftvolle Vision ermutigt, meinem Traum zu folgen. Lass mich mit dir teilen, wohin er mich geführt hat:

Stell Dir vor, die Welt wäre voll von Menschen, die in Frieden mit dem leben, was sie sind: menschlich, sehnsuchtsvoll und gebrochen.

Stell Dir vor, Vergebung würde zu einer neuen Form der Kunst erhoben und als die Edelste von allen geehrt.

Stell Dir vor, wir wären mutig genug, unsere persönliche Freiheit einzufordern und bereit, die damit verbundene Verantwortung anzunehmen.

Stell Dir vor, wir wären bereit, unser Potenzial voll auszuschöpfen und würden andere dabei unterstützen, das Gleiche zu tun.

Stell Dir vor, wir wären uns unserer gegenseitigen Verbundenheit voll bewusst und würden von den Freuden und Schmerzen der Menschen gleichermaßen berührt.

Stell Dir vor, wir glaubten an unsere "Götter" mit der demütigen Einsicht, dass wir uns der Wahrheit nur annähern, sie aber nie vollkommen erfassen können.

Nimm die Religionen weg, John, und wir werden etwas anderes finden, worüber wir streiten können. Solange der Krieg in uns wütet, wird er auch da draußen toben. Wir sind zerbrechliche und verletzte Geschöpfe, voller Narben und Wunden; diese kostbaren Momente völligen Friedens sind die Früchte einer furchtlosen Begegnungen mit uns selbst, wenn wir von der Verurteilung zur Akzeptanz übergehen.

Danke, dass du deinen Traum geteilt hast, John Lennon. Er hat die Herzen so vieler Menschen berührt. Es muss Tausende von einzigartigen Geschichten da draußen geben, die, so wie meine Geschichte auch, mit deinem Lied begonnen haben und in etwas zutiefst Persönliches gewachsen sind.

Wäre es nicht wunderbar, wenn wir ihnen mit Demut und Mitgefühl zuhören könnten?

Just imagine, John!