Date

03.05.2016
Ich bin ein Haus mit vielen Zimmern

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Nairobi 2007, ein Montagmorgen, am Weg in die Arbeit.
Schon braut er sich zusammen, der befürchtete Verkehrsstau. Ein lautes, buntes, für mein europäisches Auge, bedrohliches Durcheinander. Und ich sitze fest - mittendrin. Für die Straßenhändler ein idealer Marktplatz. So mancher Autolenker macht gerne Gebrauch von den angebotenen Tees und Mandazis um sich von dem umgebenden Wahnsinn abzulenken. Ich war keine von ihnen. Ich will keinen Tee, kein Mandazi - ich will zu meinem Meeting, und zwar rechtzeitig.
Zunehmend angespannt nähert sich mein zorniges Gesicht der Windschutzscheibe. Wenn mich schon keiner hören kann, so sollen sie es wenigsten sehen: Ich will raus hier!
"Das wird dauern..." meldet sich eine äußerst unerwünschte innere Stimme. Ein peinlich unschönes Wort fährt eruptionsartig durch meinen Lippen - aus ungeliebten Abgründen kommend, und doch mit der Selbstverständlichkeit eines Standardvokabulars. Ich falle in mich zusammen.
Atmen. Richtig! Atmen hilft. "Einatmen - ich beruhige mich. Ausatmen- ich lächle." - oder so ähnlich habe ich das doch im Mindfulness Kurs einmal gelernt? (...wie gut, dass es von diesem Lächeln kein Foto gibt!)

Nach einer gefühlten Ewigkeit öffne ich meine Augen. Keine Veränderung der Verkehrslage. Gab es einen Unfall? Mein leerer Blick landet im Gesicht einer Frau im Auto neben mir. Eigenartig - irgendetwas berührt mich an ihrem Ausdruck... mein Blick schweift weiter, mit zunehmender Faszination. So viele Geschichten in diesen Gesichtern! Ganz persönliche Geschichten, jede und jeder einzelne von ihnen, hineingewoben in das mysteriöse Geflecht menschlichen Geschehens, alle an ihrem einzigartigen Platz, den niemand für sie füllen und gestalten kann.

Mitten im afrikanischen Verkehrschaos, in meinem kleinen, verriegelten Universum sitzend, trifft es mich wie ein Blitz: wie ist es möglich, dass so viele Facetten dieser doch so "Fremden" etwas in mir zum Schwingen bringen? Die nachdenklichen Augen des Teenagers am Rücksitz, der starrende Blick der Geschäftsfrau, bis hin zum dankbaren Lächeln des Bettlers wegen der Münzen, die man ihm aus den Autos zuwirft.
Und plötzlich ist er da - unerwartet simpel und schön - jener bemerkenswerte Aha-Moment, der mich für so viele weitere Jahre begleiten würde:

Ich bin ein Haus mit vielen Zimmern.
Wir alle sind es.

Ich lasse mich von der vordergründigen Banalität dieses Bildes nicht abhalten und folge seiner Entfaltung. Gott sei Dank. Denn genau in seiner Schlichtheit liegt die Kraft, wie sich in vieler Weise noch zeigen würde...

Jeder Mensch ist wie ein Haus mit vielen Räumen. Unzählige Türen in allen möglichen und unmöglichen Farben und Formen führen in verschiedenste Zimmer: das Liebes-Zimmer, das Hass-Zimmer, das Trauer-Zimmer, das Glücks-Zimmer, das Ruhe-Zimmer, das Lärm-Zimmer, das Freundes-Zimmer, das Feindes-Zimmer, das Wut-Zimmer, das Sanftmut-Zimmer, das Leidenschafts-Zimmer, das Langeweile-Zimmer... die Liste ist endlos;
denn in jedem Menschen finden wir das gesamte Spektrum an Raumvariationen - vom Heiligen-Raum bis zum Killer-Raum.
Wir alle haben sie alle.

Es sind unsere ganz individuellen Umstände und Hintergründe, die unser "Geburtszimmer" bestimmen, den Raum, von dem wir ausgehen. Dieser Herkunfts-Raum ist gefüllt mit Kindheitserinnerungen und prägenden Beziehungen; wir kennen die Gepflogenheiten und identifizieren uns damit . Hier formt sich unser Selbstbild - egal ob die Atmosphäre nun positiv oder negativ ist. Dieser Ort ist für die Einen nur ein temporäres Zuhause, aus dem sie hinauswachsen, für die Anderen ein Ort der zum Gefängnis wird. Je nachdem...

Wesentlich ist es zu erkennen, dass wir mehr sind als das, was ein einziger Raum von uns zu reflektieren vermag. Viel mehr. Es braucht Mut (ja, Mut!) nach der Türschnalle zu greifen um den vertrauten Raum zu verlassen auf der Suche nach dem größeren Ganzen.

Ist es Ignoranz oder Bequemlichkeit? Jedenfalls bewegen sich viele
ein ganzes Leben lang nicht über den limitierten Horizont ihres Herkunfts-Raumes hinaus - eine verführerisch simple Wahl, angesichts der herausfordernden Alternative, sich in einem ganzen "Haus mit vielen Räumen" zurechtfinden zu müssen. Der jeweilige Horizont bestimmt natürlich unser Weltbild, und so ist es nicht verwunderlich, dass wir uns als eng-horizontige Zimmerinsassen sehr schnell bedroht fühlen: unerforschte Räume erscheinen störend "fremd" und werden als Gefahr bekämpft - im Außen, im "Anderen", während wir leugnen, dass all das - ja, genau das - potenziell auch in uns selber lebt.
Wie gesagt: wir alle haben sie alle - diese unendlich vielen Räume in dem einen Haus...

Der eigentliche Unterschied zwischen mir und irgendeinem Kriminellen ist nicht notwendiger Weise mein tugendhafterer Charakter, oder, um in der Sprache meiner Metapher zu bleiben, mein "schöneres Haus". Was uns unterscheidet ist vielleicht viel mehr das Glück, vor solch extremen Umständen bewahrt worden zu sein, deren destruktiver Wucht wohl die wenigsten von uns standhalten könnten.
Es ist so leicht, andere von unseren privilegierten Zimmern aus zu verurteilen. Aber - Vorsicht! Ein paar Krisen und Versuchungen später könnten wir uns selbst in bisher ungeahnten "Räumen" wiederfinden, die in ihrer Abgründigkeit unser Selbstbild zutiefst erschüttern würden. Die unerwartete Konfrontation mit den abscheulichen Winkeln unseres Hauses tut weh, sehr weh, und lässt uns bitter oder demütig werden.
Ja, wir alle haben sie alle...

Wie uns manchmal das Dunkel überkommt, so gibt es auch die freudigen Überraschungen im Haus der vielen Räume. Ganz besonders gilt das für die Mutigen, die es wagen, ihr Nest zu verlassen, um andere Räume zu erkunden. Was für eine Vielfalt an Realitäten und Möglichkeiten, die es hier zu verstehen gilt! Kein Wunder, wenn wir uns manchmal fühlen wie der Spielball unsichtbarer Spieler! "Warum sitze ich im Wut-Raum, wann immer meine Mutter etwas von mir will?". "Warum gehe ich wie ferngesteuert in den Trauer-Raum, sobald ich dieses Lied höre?"... Diese "unsichtbaren Spieler", unsere Trigger, zu identifizieren und verstehen zu lernen, ist ein wesentlicher Schritt hin zu einem freien, selbstbestimmten Leben, das da ist: den Lebensraum in Ruhe selbst wählen zu können, anstatt von einem Zimmer in ein anderes gestoßen zu werden.

Diese Metapher erinnert auf so einfache Weise an eine sehr komplexe Realität: nämlich an die simultane Existenz all unserer Seins-Weisen:
in jedem Moment
alle Räume
unter einem Dach.
Die Erinnerung daran ist ein Hoffnungsträger in so mancher Krise, ein letztes Flämmchen, das uns weitersuchen lässt. Wer kennt sie nicht, die lähmende Stimme der Depression, die uns da unaufhörlich zuflüstert:
"Ich bin das ganze Haus!"
Wehe denen, die dieser Lüge auf den Leim gehen! Sie werden, ihrer inneren und äußeren Bewegungsfreiheit beraubt, noch lange hier verweilen…
Das Wissen um die vielen Räume in uns ist ein starkes Mittel gegen diese Machtlosigkeit. Es bleibt uns zwar nicht erspart, einen Weg aus diesen dunklen Löchern zu finden und uns dann auch herauszuarbeiten, aber es ist nicht mehr ganz so finster.

Wie heilsam die Anwendung dieser "Haus mit vielen Zimmern"- Metapher sein kann, möchte ich anhand eines für mich sehr prägenden Erlebnisses in meiner Arbeit als Therapeutin illustrieren.

2007, in der Zeit um die kenianischen Präsidentschaftswahlen haben Politiker Angst und Misstrauen gesät zwischen den Hauptstämmen des Landes, was schlussendlich zu blutigen Ausschreitungen führte.
Ich wurde gebeten Kindern in einer Schule im Nairobi Slum Kibera zu helfen, die furchtbaren Erlebnisse dieser Tage zu verarbeiten. Und so traf ich Isaac.

Isaac war 15 Jahre alt, groß gewachsen, viel zu groß für sein Alter. Der Direktor der Schule beorderte ihn zu mir, weil sein aggressives Verhalten in der Klasse nicht mehr tragbar war. Es war nicht verwunderlich. Wie er mir bald selbst erzählte, war Isaac Zeuge des brutalen Mordes an seinem Vater. Dann deutete er aus dem Fenster auf eine Hütte in der Ferne: "Das war unser Zuhause - meine Eltern haben diese Hütte gebaut! Sogar die Wäsche, die du dort auf der Leine siehst, sie gehört uns!" Er schnaubte vor Wut. Isaacs Mutter und seine vier Geschwister wurden während der Unruhen von ihren Nachbarn, Angehörige des befeindeten Stammes, vertrieben, und müssen jetzt auf der Straße schlafen. Diese traumatisierenden Erlebnisse haben Isaacs Weltsicht schwer erschüttert. "Von Freunden zu Todfeinden - einfach so - im Handumdrehen!?! Ich habe denen vertraut! Wir haben einander geholfen, wenn wir krank waren! Und plötzlich zählt nur noch deine Stammeszugehörigkeit - und wenn es die "falsche" ist, reicht das schon um zu töten? Wie werde ich je wieder vertrauen können?!?" Sein verzweifelter Gesichtsausdruck spiegelte die unbarmherzige Härte seiner Erfahrung wider.
Wir begannen zu arbeiten. Ich zeichnete das Haus mit dem Dach und vielen, sehr vielen Türen, die Isaac beschildern sollte. "Schmerz-Raum, Hass-Raum, Wut-Raum, Tod-Raum, Terror-Raum, Feindes-Raum...", so beschritt er sein "Haus", bis es langsam ruhiger wurde, und er mit "Zuhause-Raum, Liebes-Raum, Familien-Raum, Vater-Raum, Trauer-Raum" endete.
Ich erklärte ihm, dass wir sie alle haben - vom "Heiligen-Raum" bis zum "Killer-Raum".
„Wir alle haben sie alle.“
Er legte den Stift zur Seite und sah mich mit großen Augen an.
"Sie auch? Haben sie es auch, das Killer-Zimmer?"

"Ja, ich habe es auch. Wenn ich zusehen müsste, wie jemand mutwillig meine Kinder verletzt, so könnte ich mich instinktiv in meinem Killer-Raum wiederfinden um sie zu retten. Der Weg zu diesen Raum ist gepflastert mit Angst und Terror. Und genau das ist mit deinen Nachbarn passiert. Die Straßen waren voller Gewalt und Blut - ein Stamm gegen den anderen. Es gab kein Vertrauen mehr. Die einzige Option schien "sie oder wir", jeder schlug nur noch um sich. Und du leidest nun darunter, dass diese schlimmen Erlebnisse den Pfad zu diesem Raum in dir freigelegt haben.“

Isaac lehnte sich zurück und schwieg. Sein intensiver Gesichtsausdruck ließ auf das Ausmaß seines inneren Ringens schließen.
"Was können wir tun, um den Eintritt in das Killer-Zimmer zu verhindern?" fragte er in einem fast verzweifelten Ton.
"Was denkst du?" Ich warf den Ball zurück in seine Hände.
Nach einer weiteren langen Pause blickte er auf und überraschte mich mit einer beeindruckend klaren Antwort: "Ich glaube wir brauchen ein sehr starkes, gut eingerichtetes "Liebes-Zimmer" und einen großen "Gott-Raum" um die Kraft zu bekommen, nicht zu zerstören."

Und so begann Isaac vorsichtig, mit vielen Tränen und Fragen, den Horror seiner Erfahrungen einzuordnen, und neue Wege in die Welt für sich zu erschließen.

Ein Jahr, nachdem wir unseren Prozess abgeschlossen hatten, kreuzten sich unsere Wege zufällig wieder. Isaac wirkte gelöst und glücklich, als er auf mich zukam um Hallo zu sagen. "Ich weiß jetzt - es ist wirklich wahr - das Haus mit den vielen Räumen!" Seine Direktheit überraschte mich. "Egal, wie ich mich gerade fühle, ich bin immer das GANZE Haus, immer!"
Mit einem strahlenden Lächeln verabschiedete er sich und lief zurück zu seinen Freunden.

Ich war fassungslos. "Ich bin immer das GANZE Haus, immer!"
Er hat's verstanden...
Danke für die Erinnerung, Isaac!