Date

28.01.2020
Das schwarze Schaf- Und warum wir es so notwendig brauchen.
Die Norm ist nicht die einzige Option.

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Es ist wahrlich ein hartes Schicksal sich als der Außenseiter zu fühlen unter denen, die einem eigentlich am nächsten sein sollten. Kein Wunder, wenn die Betroffenen beginnen daran zweifeln, liebenswert zu sein, "schwierig" wie sie sind! Jahre von Negativ-Feed-back und Streit verwandeln sie oft in rebellische, selbstzerstörerische Menschen, die scheinbar nur nehmen und nichts zu geben haben, in ein "Fass ohne Boden" sozusagen.

Sinnloses, ungerechtes Leiden ist die schlimmste Form des Leidens, und genau das ist es, was viele schwarze Schafe viel zu lange erleben. Wirklich schade! Denn ihnen ist bisher offensichtlich etwas Wesentliches verborgen geblieben: die Gaben des Schwarzen Schafes.

Schwarze Schafe fallen auf. Sie sind die seltene Ausnahme in einer Herde von weißen Artgenossen. Der Unterschied ist offensichtlich und fordert eine klare Position: entweder mag man das "Besondere", oder man lehnt es als störend ab. Schwarze Schafe zwingen uns innezuhalten. Sie erinnern uns daran, dass die Norm nicht die einzige Option ist. Ihre Herausforderung an die Community lautet: seid ihr bereit, euren gewohnten Horizont zu hinterfragen um auch andere Lebensweisen zu integrieren, wenigstes aber zu respektieren?

Da schwarze Schafe einander anziehen, war es mir möglich im Laufe meines Lebens aus vielen Beispielen Erfahrungs- und Erlebnismuster herauszufiltern, die sich bei einem Großteil der schwarzen Schafe zeigen. Hier eine Liste klassischer Erfahrungen:
(Achtung: Kategorisierung vereinfacht und zielt darauf ab, Verständnis zu schaffen. In diesem Sinne kann diese Zusammenfassung dem Reichtum der persönlichen Erfahrung nie gerecht werden. Manches mag auf Dich nicht zutreffen, während andere Erfahrungen vielleicht hier nicht aufscheinen.)

1. "Ich sehe sie - aber sie sehen mich nicht."

Eine typische Wahrnehmung des schwarzen Schaf Kindes. Sie sind Beobachter. Sie beobachten nicht nur mit ihren Augen, sondern vor allem mit ihren Herzen. Sie schauen genau und unterscheiden feinste Nuancen auf unterschiedlichsten Ebenen. Doch während sie so aufmerksam ihre Umgebung wahrnehmen, fühlen sie sich selber selten gesehen und erkannt. Eine Erfahrung von schmerzhafter Einsamkeit, aber auch von Macht und gefühlter Verantwortung.

2. Hochsensibilität

Nicht jeder hochsensible Mensch ist ein schwarzes Schaf. Allerdings ist das Phänomen der Hochsensibilität häufig zu beobachten in dieser Gruppe. Sie haben zusätzlichen "Antennen", die sie auf Details feinstimmen, denen der Normalsensible gar keine Aufmerksamkeit schenkt. Das bedeutet aber auch, dass die schwarzen Schafe zusätzliche Informationen zu verarbeiten haben, während sie aber "normal" funktionieren wollen, so wie all die anderen auch! Ein Anspruch der leider allzu oft zu Stress und Frustration führt.
Hochsensible Menschen brauchen mehr Raum und Zeit um Erlebtes zu verarbeiten, zu integrieren und wieder zur Ruhe zu kommen - eine große Herausforderung für feinbesaiteten Menschen in dieser dichten Welt. Wird dieser Raum nicht gewährleistet, so kann der hochsensible Mensch sehr schwierig werden: irritiert, aggressiv, manipulativ, oder einfach nur fordernd und die ganze Familienaufmerksamkeit monopolisierend. Eltern spielen hier eine wesentliche Rolle und können durch Verständnis und Hilfestellungen das Leben ihres hochsensiblen Kindes wesentlich erleichtern. Hochsensibilität ist eine Gabe, die ihren Preis hat.

3. Träger der Kindheitserinnerungen

Schwarze Schafe sind oft die Hauptträger von Kindheitserinnerungen. Bei Familientreffen gibt es meistens Einzelne, die endlos Geschichten von früher erzählen können - oft mit unglaublichen Details - während der Rest der Familie entweder in "Ich weiß gar nichts mehr!"-Manier den Kopf schüttelt, oder im gelegentlichen "Ja, genau! Jetzt erinnere ich mich wieder!"-Jubel auflebt.
Genau, das sind die schwarzen Schafe. Sie erinnern sich.

4. Systemstörung

Ihre bloße Existenz scheint Unfrieden in der Familie zu stiften.

Die Lebenseinstellung der schwarzen Schafe und ihre kompromisslose Art und Weise diese zu kommunizieren fordert das gesamte System heraus und stellt allzu oft den "heiligen" Familienhorizont in Frage. Schwarze Schafe stolpern mit einer unglaublichen Treffsicherheit in jegliches Familientabu. Sie sind denkbar ungünstig veranlagt, wenn es darum geht sich an Regeln zu halten. Warum? Nein, es ist nicht ihre Absicht zu provozieren. Sie versuchen lediglich ganz authentisch die zu sein, die sie zu sein glauben um genau so geliebt werden zu können. Ihr Bedürfnis nach Kompromisslosigkeit hat etwas Existentielles: sie sehnen sich danach gesehen zu werden und endlich dazuzugehören. Doch je mehr sie von sich zeigen, umso schwieriger scheint es meist für sie zu werden.
Erst, wenn Eltern die Phase der Empörung durchlitten haben und sich von ihrem Power-kid nicht mehr bedroht fühlen, werden sie fähig, ihr Kind wirklich wahrzunehmen, zu respektieren, und diese Liebe zu geben.

5. Objekt des Neides

Schwarze Schafe sind oft sehr talentierte, mutige und außergewöhnliche Menschen. Früher oder später werden sie andere treffen, die sie in ihrer Begabung erkennen und wertschätzen, wodurch sie endlich lernen sich selbst positiv wahrzunehmen. Je mehr ihr tiefes Scham- und Schuldgefühl ersetzt wird mit Dankbarkeit und Selbstrespekt, umso Größeres werden sie schaffen in ihrem Leben.
Interessanterweise kann es sein, dass sich trotz allem ihre Rolle innerhalb der Familie kaum ändert. Egal wie beeindruckend der Erfolg, das Lob von Eltern und Geschwistern bleibt oft aus (oder ist vernachlässigbar minimal). Sie mögen dem schwarzen Schaf zwar folgen auf Instagram oder Twitter, aber abgesehen vom gelegentlichen "like" gibt es wenig Anerkennung.
Auch bei Familientreffen steht die erfolgreiche Entwicklung des schwarzen Schafes nicht im Vordergrund. Wenn die tolle Karriere überhaupt angesprochen wird, so meist nur um skeptische Fragen zu stellen oder auf Gefahren hinzuweisen. Traditioneller Weise steht etwas viel Amüsanteres im Vordergrund: die früheren Missetaten der jetzt so Erfolgreichen; diese Geschichten vermögen bis in die Gegenwart zu empören und zu erheitern. Für das Schwarze Schaf allerdings ein bekannter Verlauf: der vertraute Schmerz des Anders-seins und Nicht-dazugehörens steigt hoch, und so ist es tatsächlich möglich, dass der erfolgreiche Musiker sein Elternhaus verlässt als das schwarze Schaf, das er hier geworden war. Die Struktur ist unbarmherzig. Das Schwarze Schaf ist wieder dort wo es hingehört.

In Zeiten der Krise jedoch ist es genau dieses marginalisierte Familienmitglied, an das man sich wendet, dem man sich anvertraut und das man um Rat frägt. Aber nur unter vier Augen. Und streng vertraulich...

6. Wachstumskatalysator

Ist die Familie flexibel genug, so wird sie hineinwachsen in die Fähigkeit, ihr schwarzes Schaf anzunehmen und zu ehren. Es ist wie mit dem Frosch, der nur den Kuss braucht um zum Prinzen zu werden: in der versöhnlichen Umarmung der Familie verwandelt sich das bedürftige Problemkind in ein großherziges Mitglied. Die Gemeinschaft als Gesamtes wird bereichert, geheilt und transformiert.

Auch schwarze Schafe tragen eine große Verantwortung in diesem Prozess; nach Jahren eines konfliktreichen Familienlebens entwickeln sie oft eine kompromisslose Härte und einen Mangel an Bereitschaft die Anderen zu verstehen. Leider neigen sie oft zu einer überheblichen Besserwisserei, die es für andere schwer macht auf sie zuzugehen und sich ihnen zu öffnen. Um eine positive Entwicklung in Gang zu bringen brauchen alle Beteiligten die Fähigkeit sich selbst zu reflektieren und das mit einer gehörigen Portion Demut. Es geht nämlich darum, sich mit dem Schmerz und der Ungerechtigkeit vieler Jahre zu konfrontieren, die verursacht und erlitten wurden - und zwar auf allen Seiten.
Verweigert eine Familie die Aufforderung zu Wachstum und Integration durch ihr schwarzes Schaf, so hat auch das seine verändernde Wirkung: das System wird rigider, die Grenzen härter, die Herzen bitterer. Das Schwarze Schaft bringt Veränderung - so oder so.

7. Lastenträger

Schwarze Schafe sind die Lastenträger der Familie, zumindest so lange der Rest der Familie leugnet, dass es etwas zu tragen gibt. Wenn das Schwarze Schaf das einzige Mitglied ist, das sieht, was keiner sehen will, dann muss es alleine damit fertigwerden. Die, die erkennen, müssen auch er-tragen. Leider fallen viele Familien der Versuchung anheim, das "Problem" einfach zu lösen, indem sie das Schwarze Schaf in einen Sündenbock umfunktionieren, so nach dem Motto "Wenn die Unruhestifterin weg ist, ist das Problem weg." Ein fataler Trugschluss, der eine bereits geschwächte Gemeinschaft mit noch mehr Schuld und Schmerz belastet.
Je bereitwilliger sich eine Familie der Herausforderung zu Wachstum und Veränderung stellt, umso höher wird die Bereitschaft der einzelnen Mitglieder Sehende zu werden. Je mehr sie sehen, umso mehr werden sie mit-tragen. Je mehr sie mittragen, umso grösser wird ihr Respekt für ihre mutigen Lastenträger.

8. Neigung zu Psychosomatischen Krankheiten

Hohe Sensibilität in Kombination mit einer chronisch angespannten Familiensituation bilden einen idealen Nährboden für psychosomatische Erkrankungen. Angststörung, Depression, Minderwertigkeitsprobleme, eine Neigung zu selbstverletzenden Verhaltensweisen und Suchttendenzen - das sind einige der vielen Möglichkeiten, wie sich ein andauernder Konflikt in der schwarzen Schaf-Seele manifestieren kann. Diese Menschen benötigen besonders viel Aufmerksamkeit und können tatsächlich sehr anstrengend bis hin zu völlig überfordernd für ihre Liebsten sein.

Es ist genau dieses jahrelange Leiden mit und wegen des schwarzen Schafes, das eine Familie idealerweise bereit macht die mutigen Schritte in Richtung Veränderung und Wachstum zu machen. Eines schönen Tages wird man hoffentlich schwarze Haarsträhnen im Fell der weißen Schafe entdecken! Weiße Haare im schwarzen Fell waren ja zu erwarten...

9. Zuhause ist weg von Zuhause

Die meisten Schwarzen Schafe, die ich kenne, sind irgendwann von ihrem Heimatort weggezogen, meistens sogar sehr weit weg, manche für eine begrenzte Zeit, andere für immer. Obwohl sie anfangs oft unter massivem Heimweh leiden, ist ihnen doch bewusst: was sie jetzt so vermissen, ist auch das, was sie so krank gemacht hat - ihr Elternhaus. Und genau das müssen sie verlassen um gesund werden und ihre Flügel wachsen lassen zu können.

Wer kennt sie nicht, die sentimentalen Momente bei späteren Familientreffen? Ach, wie waren sie doch schön, die sorglosen Kindheitstage, und welch Privileg in dieser wunderschönen Umgebung aufgewachsen zu sein...

Schwarze Schafe tragen selten etwas bei zu diesem melancholischen Austausch. Warum? Weil sie, anders als ihre Geschwister, selten Freude empfinden, wenn sie sich dem Ort ihrer Kindheit und Jugend nähern. Bedauerlicherweise trifft meist gar das Gegenteil zu: für das schwarze Schaf tragen die besonderen Wahrzeichen und Orientierungspunkte dieser Gegend mächtige Erinnerungen an eine Zeit des inneren Exils; wie schön die Gegend auch sein mag, für das Schwarze Schaf entschwindet sie un- genossen in einem emotionalen Nebel aus Trauer und Beklemmung.

Über die Jahre werden die Landschaftsfarben auch für das schwarze Schaf wieder sanfter und geläuterte Familienbande als Bereicherung erlebt. Aber wie schön der Besuch auch gewesen sein mag, man verabschiedet sich doch auch wieder gern, und ist dankbar für sein Zuhause weg von Zuhause...

Es sind tatsächlich Gaben substantieller Natur, die das schwarze Schaf in sich trägt. Aber um diesen "Schatz" heben zu können, müssen alle eines erkennen:

das schwarze Schaf mag manchmal unbequem, lästig, oder gar bedrohlich sein, doch, wie "anders" es auch sein mag, es ist genau so, wie es sein muss, um seinen "Auftrag" in seiner Community erfüllen zu können, ein Auftrag der da ist: heraus-zu-fordern um endlich Raum für Neues zu schaffen und dadurch Heilung zu bringen.

In ihrem Buch „Return to Love“ enthüllt Marianne Williamson mit nur wenigen Worten die erstaunliche Wahrheit dessen, was ich die wahre Natur der schwarzen Schafe nennen würde, ihre Herausforderung und ihren Ausweg aus der Lüge.

„Unsere größte Angst ist nicht, dass wir unzulänglich sind. Unsere tiefste Angst ist, dass wir unermesslich mächtig sind. Es ist unser Licht, nicht unsere Dunkelheit, das uns am meisten Angst macht. Wir fragen uns: Wer bin ich, um brillant, umwerfend, talentiert, fabelhaft zu sein? Eigentlich, wer bist du, es nicht zu sein? Du bist ein Kind Gottes. Dein Kleinmachen dient nicht der Welt. Es ist nichts Erleuchtetes daran, sich zu verkleinern, damit sich andere Menschen um dich herum nicht unsicher fühlen. Wir alle sollen strahlen, so wie es Kinder tun. Wir wurden geboren, um die Herrlichkeit Gottes, die in uns ist, zu offenbaren. Es ist nicht nur in einigen von uns; es ist in jedem. Und während wir unser eigenes Licht leuchten lassen, geben wir unbewusst anderen Menschen die Erlaubnis, dasselbe zu tun. Wenn wir von unserer eigenen Angst befreit sind, befreit unsere Anwesenheit automatisch andere.“

Darum, bitte, liebes Schwarzes Schaf, nimm meinen Rat an: Sei sanft zu dir selbst, sei nicht zu hart zu anderen und lebe, lebe mutig, lebe ganz!